Prof. Dr. Gunther Hirschfelder studierte Geschichte, Volkskunde und Agrarwissenschaft in Bonn. 1992 wurde er mit einer Arbeit über die Kölner Handelsbeziehungen im Spätmittelalter an der Universität Trier promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt in Manchester folgten Assistentenjahre an der Universität Bonn und 2000 die Habilitation über den Alkoholkonsum an der Schwelle zum Industriezeitalter. Seit 2010 ist er Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der kulturwissenschaftlichen Ernährungs- und Agrarforschung in historischer sowie gegenwärtiger Perspektive.

FOKUS FLEISCH: In den Medien – zumindest in Deutschland – wird seit Jahren der Eindruck vermittelt, dass das Ende der „Fleischära“ unmittelbar bevorsteht: Der sinkende Konsum, Laborfleisch und Fleischersatzprodukte beherrschen die Schlagzeilen, wobei die angeblich hohen Treibhausgasemissionen und gesundheitlichen Risiken durch den Fleischkonsum (beides inzwischen wissenschaftlich umstrittenen) immer wieder in den Vordergrund gestellt werden.

Das steht jedoch im krassen Widerspruch zur Realität: Die globale Nachfrage nach Fleisch steigt, die Börsenwerte der Laborfleisch-Unternehmen sehen bescheiden aus, und nun ist auch der Fleischkonsum in Deutschland wieder gestiegen: Insgesamt um 3% zum ersten Quartal des Vorjahres, wobei bei Rind- und Geflügelfleisch der Zuwachs bei 10% bzw. 11% zu 2023 liegt.

Wie erklären Sie – aus kulturwissenschaftlicher Sicht – diesen Widerspruch?

Prof. Dr. G. Hirschfelder: Nicht nur in den Medien und im Netz, auch in Universitäten und Innenstädten wird erbittert über Fleisch diskutiert. Aber was gesagt wird findet noch lange keine Umsetzung. Der Diskurs über das Tier hat nämlich oft eine ganz andere Funktion: In einer Welt, die ja für fast alle bedrohlich und unsicher wirkt, wollen wir uns doch orientieren. Früher war die große politische Systemfrage: rechts oder links, Sozialismus oder Kapitalismus. Mit dem Ende von Sowjetunion und DDR haben wir den Glauben an Ideologien verloren, es folgte eine neoliberale ideologiefreie Generation. Heute kommt der Diskurs wieder, und das Vegane und die Fleischfraktion haben diese Funktion übernommen. Dazu kommt: Wer in einer jugendlichen, bildungsaffinen und städtischen Umgebung gegen das Fleisch polemisiert, wähnt sich fast automatisch auf der richtigen Seite.

Allerdings ist die Fleischkritik ein Elitendiskurs. Wer einkommenschwach und bildungsfern ist oder erst vor kurzem nach Deutschland migriert ist, fühlt sich da wenig angesprochen: Da stehen andere Themen auf der Agenda.

FOKUS FLEISCH: Die Fleischwirtschaft hat mit der Initiative Tierwohl die Möglichkeit geschaffen, zwischen verschiedenen Tierhaltungsformen auszuwählen. Während Konsumenten in zahlreichen Umfragen stets angeben, dass Tierwohl und Regionalität bei der Kaufentscheidung für sie wichtig sind, richten Verbraucher ihr Einkaufsverhalten auch dann nach dem Preis aus, wenn Sie wählen können. Der Preis scheint also immer noch ein starkes Argument zu sein. Wie sehen Sie das als Kulturwissenschaftler? Was steckt dahinter?

Prof. Dr. G. Hirschfelder: Über drei Viertel der Bevölkerung sind ziemlich preissensibel. Das ist das ist eine. Und dann die Einkaufssituation: Die Zeit ist knapp, der Stress groß, da greift man rasch zu. Da ist das billige verlockend. Man kann ja dann beim nächsten Mal die höhere Haltungsstufe nehmen. Und außerdem schaut ja keiner zu. Anonymer Einkauf vor allem beim Discounter führt zu solchem Verhalten.

FOKUS FLEISCH: Die Kulturgeschichte der Menschen – zumindest in Europa – ist eng mit der Jagd bzw. Tierhaltung verbunden. Ob Höhlenmalereien mit Jagdszenen aus der Steinzeit, oder spätere Rinderkulte zeugen davon. Heute polarisiert das Lebensmittel Fleisch Teile der Bevölkerung. Warum ausgerechnet Fleisch?

Prof. Dr. G. Hirschfelder: Fleisch war lange Symbol für Wohlstand und Gesundheit, eigentlich über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg. Erst mit dem Übergang zum Industriezeitalter vor 150 Jahren wurde es dann endlich auch für alle erschwinglich. Aber mit zunehmendem Fortschritt haben wir auch Angst bekommen. Die Umwelt wird zerstört, die Heimat geht verloren. Dazu eignet sich die Tierhaltung besonders für skandalisierende Darstellung. Und außerdem kennt jeder das Produkt Fleisch. Und dann der Umgang mit dem Tier… Das Tier wird heute in unserer Wahrnehmung vermenschlicht. Anthropomorphisierung nennen wir das. Da ist es zum Mitleid nicht weit. Ich habe als Kind auch mit den Stallhasen Advent gefeiert. In der Summe ist das Fleisch zu einer Metapher geworden für alles, was im Umweltbereich schiefläuft. Und man findet so immer jemanden, der Schuld ist: denjenigen, der Fleisch isst. Wie praktisch!

FOKUS FLEISCH: Für viele Menschen empfinden belehrende Aufrufe zum Verzicht in den Medien und mittlerweile auch aus der Politik als Bevormundung. Wie sehen Sie das?

Prof. Dr. G. Hirschfelder: Auch das hat wieder etwas Metaphorisches. Viele Bevormundungen haben wir ja schon geschluckt, vom Rauchverbot bis zur zurückhaltenden Sprache. Dazukommen permanente Überwachungen, die uns kontrollieren und einschränken. Durch Internet und Smartphone ist ja nichts mehr geheim. Ernährung ist fast der letzte „unregulierte Bereich“. Man kann kaufen und essen, was man will. Zusätzliche Beschränkungen in diesem Bereich werden sich kaum durchsetzen lassen. Schokolade zwischendurch, eine Wurst im Stadion, ein Feierabendbier – das sollte man nicht verbieten!