"International agierende Agrarwirtschaft zur Sicherung der globalen Verteilungsgerechtigkeit", das ist die Zukunftsvision vom Buchautor und Ernährungswissenschaftler Dr. Malte Rubach: „Ob und wie die Weltgemeinschaft das schafft, daran werden wir irgendwann gemessen“, so Rubach in seinem Buch „Warum es uns kümmern sollte, wenn in China ein Sack Reis umfällt – Die Ernährung der Zukunft“ und im Gespräch mit Fokus Fleisch.


Dr. Malte Rubach, Ernährungswissenschaftler und Buchautor, hat Ernährungswissenschaft in Deutschland, der Türkei und den USA studiert, nachdem er sich schon in seiner Jugend als Leistungssportler für Ernährungsthemen begeisterte. Foto: Ingolf Hatz
Dr. Malte Rubach, Ernährungswissenschaftler und Buchautor, hat Ernährungswissenschaft in Deutschland, der Türkei und den USA studiert, nachdem er sich schon in seiner Jugend als Leistungssportler für Ernährungsthemen begeisterte. Foto: Ingolf Hatz

Fokus Fleisch: Wenn man in Deutschland über die nachhaltige Entwicklung des Planeten spricht, dreht sich die Diskussion meist um zwei Lösungsansätze: Wir sollten weniger Auto fahren bzw. fliegen und weniger Fleisch essen. Warum sollte es uns dann aber kümmern, wenn in China ein Sack Reis umfällt, wie es Ihr Buch bereits im Titel suggeriert?

Nachhaltigkeit ist ein komplexeres Thema, als es oft empfunden wird. Zum Beispiel dominiert in vielen Debatten das Thema Klimawandel. Wenn man sich aber die 17 Nachhaltigkeitsziele anschaut, wie diese von
den Vereinten Nationen – als Agenda 2030 (Sustainable Development Goals, SDGs [1]) – formuliert wurden, findet man Maßnahmen zum Klimaschutz unter Nummer 13, während die Armuts- und Hungerbekämpfung ganz oben auf der Agenda stehen. Das hat auch seine Gründe, weil neben rund 800 Millionen Menschen,
die weltweit als unterernährt gelten, weitere gut zwei Milliarden vom „versteckten Hunger“ betroffen sind. Und darunter versteht man einen Mangel an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitamin A, Jod, Eisen, Zink und an qualitativ hochwertigen Proteinen. Ursache dafür sind nicht selten neben mangelnder Verfügbarkeit tierischer Lebensmittel auch fehlende finanzielle Mittel, um sich diese Lebensmittel leisten zu können.

Fokus Fleisch: Dass dieser Mangel sich unmittelbar auf die körperliche und geistige Entwicklung auswirkt, ist mittlerweile ebenfalls gut erforscht. In Ihrem Buch schreiben Sie dazu auch: „Menschen brauchen Protein – hochwertiges Protein“ und meinen damit auch die tierischen Lebensmittel. Doch das widerspricht den Narrativen, die aktuell die Debatte um „nachhaltige und gesunde Ernährung“ zu dominieren scheinen. Dabei müssen vor allem in den sozialen Medien oft persönliche Geschichten von plötzlichen Top-Leistungen im Sport oder einer wundersamen Heilung von irgendwelchen Beschwerden durch den Fleischverzicht herhalten…

Für diese Art von Argumentation gibt es in der Wissenschaft sogar einen Begriff, der auch gleichzeitig die Beweiskraft solcher Aussagen bewertet: Man spricht von „anekdotischer Evidenz“. Das ist eine Besonderheit der menschlichen Psyche, denn wir glauben eher den emotionalen Erzählungen von individuellen Schicksalen als nüchternen Statistiken oder komplizierten wissenschaftlichen Abhandlungen. Und das Thema „Ernährung“ eignet sich wie kaum ein anderes fürs Geschichtenerzählen.

Doch es ist gar nicht so einfach, wie es scheint. Es besteht in der Ernährungswissenschaft seit Langem ein Konsens darüber, dass die Versorgung mit Kalorien allein nicht reicht und Proteine aus pflanzlichen Lebensmitteln nicht mit Proteinen aus tierischen Lebensmitteln gleichzusetzen sind. Gleiches gilt auch für die Verfügbarkeit wichtiger Nährstoffe wie Eisen oder Kalzium. Dennoch werden diese Fakten in der Debatte über nachhaltige Ernährung oft ignoriert und zum Beispiel einfach die Klimabilanz von einem Kilogramm Blumenkohl mit einem Kilogramm Rindfleisch verglichen, um dann für den Verzicht auf Rindfleisch zu plädieren.

Fokus Fleisch: Dass tierische Proteine nicht 1:1 mit pflanzlichen zu ersetzen sind, ist in der Tat schon lange bekannt. Doch wie lässt sich die „Unterversorgung“ – jenseits von „persönlichen Geschichten“ messen?

Auswertungen von Daten seit den 1960er Jahren zeigen klar, dass Mangel an tierischem Protein und sonstigen in tierischen Lebensmitteln enthaltenen Nährstoffen eine Ursache für eine geringere Lebenserwartung, höhere Gesundheitsrisiken und weniger Wohlstand sein kann, weil dadurch die körperliche und geistige Entwicklung eingeschränkt wird und damit die Lebenszeitproduktivität. Zumal sich die Folgen von Unter- und Mangelernährung auch noch gegenseitig verstärken. Diese Unterschiede treten am deutlichsten zwischen den ärmsten bzw. am wenigsten entwickelten Ländern und den weiter entwickelten Industrienationen auf und lassen sich sehr gut über unterschiedliche Einflussfaktoren messen, die zum Beispiel im Global Food Security Index[2] zusammengefasst werden.

Dr. Malte Rubach (2024) „Warum es uns kümmern sollte, wenn in China ein Sack Reis umfällt – Die Ernährung der Zukunft“, S. Hirzel Verlag, 221 Seiten, 10 farb. Grafiken.

Fokus Fleisch: In Ihrem Buch gibt es sogar eine Tabelle, die die statistischen Korrelationen zwischen dem Konsum und unterschiedlichen Wohlstandsindikatoren zugunsten von tierischen Lebensmitteln abbildet. Könnten Sie mehr dazu erzählen?

Es geht um eine graphische Darstellung, die eindeutig zeigt, dass Lebenserwartung, Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf gemessen), Inclusive Development Index[3], World Happiness Index[4] und Better Life Index[5] mit dem Konsum von Proteinen und Kalorien aus tierischen Quellen und auch einzelnen Lebensmitteln wie Fleisch, Milch und Eiern stark positiv korrelieren, während bei pflanzlichen Proteinen und Kalorien und auch einzelnen Lebensmitteln wie Getreide, Knollen und Wurzeln sowie Hülsenfrüchten eine stark bis moderat negative Korrelation mit den zuvor genannten Wohlstandsfaktoren zu beobachten ist.

Für diese Aufstellung wurden Daten der renommierten internationalen Organisationen wie World Bank[6], FAO[7], WEF[8] und OECD[9] genutzt. Damit gelingt es auch, ein ausgewogenes glaubwürdiges Bild der globalen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge mit der adäquaten Lebensmittelversorgung aufzuzeichnen, weil natürlich nicht der Einfluss eines Lebensmittels ausschlaggebend ist, sondern des gesamten Ernährungssystems, das meistens ohnehin auf pflanzlichen Lebensmitteln basiert und durch tierische Lebensmittel optimal ergänzt werden muss.

Fokus Fleisch: Als einen wichtigen Aspekt für die Ernährung der Zukunft behandeln Sie in Ihrem Buch die Verfügbarkeit von Fisch und Meeresfrüchten und stellen wichtige Fragen auf: „Wie lange reichen die natürlichen Ressourcen, wie umweltfreundlich wird die Aquakultur der Zukunft sein? Muss die eventuell fehlende Menge doch durch Fleisch und andere Produkte tierischer Herkunft ersetzt werden, die aktuell gerade in Asien noch weniger gegessen werden?“ Doch auch die Versorgung mit Produkten pflanzlicher Herkunft sind nicht überall gleich gewährleistet. Wie sieht hier die Versorgung zum Beispiel in Deutschland aus?

Ob Mangos, Avocados & Co., diese und viele anderen Obst- und Gemüsesorten werden heutzutage nach Deutschland importiert. Oft aus Ländern, die verstärkt ausgerechnet diese Kulturen anbauen, anstatt Lebensmittel für die eigene Bevölkerung zu erzeugen. Dazu gehört zum Beispiel Indien. Der zweitgrößte Lebensmittelerzeuger der Welt ist ein Netto-Exporteur für Lebensmittel und gleichzeitig sind 16 Prozent seiner Bevölkerung unterernährt. Ähnlich geht es in vielen Ländern Afrikas zu, wo Kaffee, Kakao und weitere auf dem Weltmarkt gefragte Exportgüter erzeugt werden.

Das ist jetzt schon alles andere als ein gerechtes zukunftsfähiges Modell, und erst recht nicht, wenn wir noch mehr Lebensmittel aus diesen Ländern importieren, um den Anteil pflanzlicher Lebensmittel in der deutschen Ernährung zu erhöhen, während wir tierische Lebensmittel in Deutschland sehr ökoeffizient erzeugen können.

Weil die Veränderungen durch den Klimawandel die Erträge in manchen Weltregionen auch noch schwinden lassen oder die Landwirtschaft an sich unmöglich machen, wird die Weltgemeinschaft darauf angewiesen sein, die gesamte Weltbevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen, die in den entsprechenden Gunstregionen erzeugt werden können.

Deutschland beispielsweise – als Gunstregion für die Erzeugung tierischer Lebensmittel und Getreide – kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Die hierzulande immer wieder von einigen Seiten angesprochene Abschaffung der Nutztierhaltung wäre dagegen sowohl für die deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft als auch global betrachtet fatal.

Fokus Fleisch: Pflanzlicher Fleischersatz bzw. der Fleischverzicht – jenseits von einer freiwilligen persönlichen Entscheidung – bleibt eine Utopie, wie Sie direkt zu Anfang in Ihrem Buch schreiben. Doch wie würde dann eine realistische zukunftsfähige Lösung für die adäquate Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung aussehen?

Eine optimale Nährstoffversorgung weltweit ohne Auswirkungen auf Klima und Umwelt wird es nie geben. Doch die landwirtschaftlichen Kreislaufsysteme sind im Idealfall selbsterhaltend, so dass sie im Austausch von Nährstoffen zwischen pflanzlicher und tierischer Erzeugung sämtliche Lebensmittel in ausreichenden Mengen liefern können, die
benötigt werden. Nahrungsergänzungsmittel oder die Anreicherung von Lebensmitteln mit kritischen Nährstoffen können in bestimmten Fällen zwar Sinn machen, das entspricht aber nicht dem eigentlichen Sinn von Ernährung. Genau dies wäre aber notwendig, wenn Visionen von bioveganer Landwirtschaft, Fleischersatz und sonstigen Ersatzprodukten
für tierische Lebensmittel Realität würden.

Abgesehen davon, dass solche oftmals mit großer Ernsthaftigkeit und viel Marketing vorgebrachten Ansinnen weltweit überhaupt nicht umsetzbar sind, existiert solch eine Vielfalt von regional geprägten Ernährungskulturen, dass wir nach anderen Lösungen suchen müssen.

Fokus Fleisch: Welche Lösungen könnten das sein?


Forschung und Innovation im Bereich Lebensmittelerzeugung zeichnen bereits heute viele Wege auf. Zum Beispiel im Hinblick auf Effizienzsteigerung oder auch Umweltfreundlichkeit. Auch der Technologietransfer wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, insbesondere von den wohlhabenden zu den sich entwickelnden Ländern. Damit sollte die Weltgemeinschaft möglichst schnell zu einer Form der internationalen Agrar- und Ernährungswirtschaft mit dem Ziel der Verteilungsgerechtigkeit finden. Das ist eine enorme Herausforderung, aber daran, wie wir diese meistern, werden wir auch irgendwann gemessen.

In meinem Buch wollte ich deshalb vor allem anhand der 17 Nachhaltigkeitsziele[1] zeigen, dass die Komplexität der Herausforderungen gleichzeitig auch eine Vielfalt an möglichen Lösungsansätzen bietet, wo je nach Region, Wirtschaftslage und gesellschaftlichen oder kulturellen Rahmenbedingungen ein Anfang gelingen kann.


[1] Sustainable Development Goals
[2] Global Food Security Index
[3] Inclusive Development Index (IDI): Der Index spiegelt den Fortschritt in den weltweit über 100 von der Untersuchung erfassten Volkswirtschaften im Hinblick auf "gerechtes Wachstum", inkl. Generationengerechtigkeit und Teilhabe.
[4] World Happiness Index: Ein internationales Expertenteam wertet eine Befragung von Menschen aus über 140 Ländern aus und stellt eine Rangliste der glücklichsten Länder der Welt zusammen.
[5] Better Life Index: Ein im Jahr 2011 von der OEC [9] ins Leben gerufener Indikator zur Messung des Wohlergehens in unterschiedlichen Ländern.
[6] World Bank - Weltbank: Eine Kurzbeschreibung auf Deutsch auf der Seite des Statistischen Bundesamtes
[7] FAO - Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen
[8] WEF - Weltwirtschaftsforum www.weforum.org
[9] OECD - Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung